ZITATE AUS DEM MUSEUMSGARTEN

Zitat 6: Fortschritt! – Technokratie

„Fortschritt!“
schreit der Mensch.
Zement verdeckt den Himmel.
Wo grünt noch ein Baum?

Quelle: Th. Th., Haiku-Dichtung, 1977

Haiku

Die aus Japan stammende Gedichtform, häufig auch „das kürzeste Gedicht der Welt“
genannt, wurde mit strengen Regeln schon seit dem 17. Jahrhundert in ihrer Heimat zu einer eigenständigen Kunstform. Berühmte Dichter von Haikus in Japan: Matsuo Basho (17. Jhdt), Masaoka Shiki 18. / 19. Jhdt.); in Europa: Reginald Horace Blyth, Rainer Maria Rilke, Arno Holz, Durs Grünbein, Ian Fleming. Über den angelsächsischen Bereich gelangte Haiku-Dichtung nach Kontinental-Europa, wo Haikus dichten in den 1970-er Jahren eine Renaissance erlebte. Es ist zu vermuten, dass auch Thora Thyselius in diesen Jahren vermehrt Kontakt zu europäischen Haiku-Dichtern hatte
und dass sie die Auseinandersetzung mit der Aufgabe, in 17 Silben eine ganze Geschichte zu erzählen, außerordentlich herausfordernd und spannend fand. In ihrem Nachlass fanden sich zahlreiche, nicht veröffentlichte Haikus. Eventuell waren diese jedoch auch nur als Stilübung gedacht? Annegret Kuilert hat die kleinen Gedichte 2023 übersetzt. Man findet einige auf
dem Flyer.

Kommentare

Das Haiku als lyrische Form

Nur der guten Ordnung halber: Haiku (und dessen Variationen Renga und Senryu) sträuben sich, außerhalb der japanischen Sprache, sich in anderen Sprachen sinn- und formgemäß dichten zu lassen. Schließlich ist eine „Silbe“ der westlichen Sprachen nicht dasselbe, wie eine „mora“ (etwa: ein Lautwert) im Japanischen. Und unser Wortschatz, zumindest in Englisch, Deutsch, Französisch, und vermutlich auch Plattdeutsch, enthält keine Begriffe, die schon allein durch ihre Anwesenheit in einem Text Auskunft über Jahreszeiten, Wetter, Religion und / oder zwischenmenschliche Beziehungen geben, also komplexe Sachverhalte
beschreiben. Der englische Poet Michael D. Welch etwa erklärt zum Beispiel, dass ein Haiku „ein Zeigefinger ist, der auf den Mond deutet“. Wir können uns also dieser Gedichtform nur nähern.
Unverzichtbar ist, dass es korrekt in der Form ist und dass es Bezug auf die Gegenwart nimmt. Das Geschehene wird genau beobachtet und eine Stimmung zum Ausdruck gebracht. Kürze, Prägnanz und Bildlichkeit sowie die Übermittlung eines verborgenen Sinns, die verbindlichen Kriterien für ein deutsches Haiku, entdeckt man bei Thora Thyselius, auf Hochdeutsch und Plattdeutsch. Es entspricht wohl ihrer Persönlichkeit, dass sie sich durch die formale Limitierung nicht etwa eingeengt fühlte, sondern sie als zusätzliche Forderung und als ästhetischen Reiz wahrnahm. Die strenge Form ist eine Bereicherung, die das Zerfließen des Kunstwerks verhindert.

Weitblick in fernöstlichen Versen

„Offensichtlich lernt der Mensch aber nichts bei seinem Sturmlauf gegen die irdischen Grenzen“ (Meadows 1972, S. 136f.). Zwischen diesem Zitat aus „Die Grenzen des Wachstums“ und Thyselius‘ Haiku scheint eine gespenstische Ähnlichkeit zu bestehen. Dass dies kein Zufall ist, verrät der Blick auf die Veröffentlichungsjahre. So kam der Club of Rome erstmals in den frühen 70er-Jahren zusammen. Zum ersten Mal drängte die sich nähernde ökologische Krise in das breite Bewusstsein der Öffentlichkeit. Nur wenige Jahre später verfasste Thyselius obiges Haiku, das direkten Bezug auf den schädlichen Einfluss der Menschheit auf die Natur nimmt. 
Heute, mehr als 50 Jahre später, entfalten die drei Verse Thyselius‘ eine stärkere Brisanz denn je. Doch Thyselius war mitnichten eine Schwarzmalerin. Trotz des Wissens über die Probleme der Welt legte sie Optimismus und Fortschrittsgläubigkeit an den Tag. Dieses Naturell ist in ihrer Dankesrede zur Verleihung des Fritz-Reuter-Preises zu erkennen: „Fast täglich stehen wir vor neuen atemberaubenden Ergebnissen der Forschung in der Biologie, in der Medizin“ (Thyselius 1965, S. 26). Die Braker Autorin, die häufig auf Niederdeutsch schrieb, lebte also am Puls der Zeit mit dem Blick nach vorne gerichtet. Der Rückwärtsgewandtheit zum Trotz, die sowohl dem ländlichen Raum als auch der niederdeutschen Sprache häufig unterstellt wird. 
Somit bietet dieses Haiku einen Ausblick auf den Facettenreichtum Thyselius‘, die sich einer traditionellen Spielart japanischer Lyrik bedient, um auf die, heute umso drängenderen, ökologischen Gefahren zu verweisen, die bereits 1972 „als die wichtigsten und langfristigsten, die die Menschheit heute zu lösen hat“ beschrieben wurden.
(Peter Meenken 2023)